Nearshore Strategies
Präambel
Diesem Aufsatz bez. Nearshore Strategien im Bereich Softwareentwicklung liegen u.a. diverse Betrachtungen vom Fachverband Software des VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) aus dem Jahr 2001 zu Grunde. An Aktualität haben sie nichts verloren.
Viele Firmen und auch andere Organisationen sehen sich derzeit der Herausforderung gegenüber, ihre operationale Effizienz und Kostenstrukturen zu verbessern. In den letzten Jahren wuchs der Anteil der R&D Ausgaben im IT Bereich der meisten Firmen im Verhältnis zum Gesamtwachstum der Umsätze unverhältnismäßig stark. Dieses Verhältnis wird vermutlich auch in den nächsten Jahren hoch bleiben, da sich viele Technologien im Wandel befinden, denkt man z.B. nur an die Elektromobilität. Bei nachlassender Konjunktur und anhaltendem Fachkräftemangel, den deutsche Firmen seit Ende 2018 verspüren, ein schmerzhafter Vorgang, der nach Optimierungsprogrammen ruft.
Hier bieten sich verschiedene strategische Ansätze. Wesentliches Merkmal der meisten dieser Konzepte ist die Auslagerung von Produkteentwicklungen, R&D Aufgaben und Projekten an externe Anbieter. Nearshoring hilft dabei fixe in variable Kosten zu transformieren.
Definition Nearshore / Offshore
Offshore = In den USA und Großbritannien hat sich vor längerer Zeit das Thema “Offshore Development“ etabliert. In Zusammenarbeit mit zumeist indischen Geschäftspartnern haben dort große Konzerne schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts begonnen, zunächst den Support von Legacy Anwendungen und Programmiertätigkeiten und später zunehmend auch komplette Geschäftsprozesse und End-to-End Entwicklungen an globale indische IT-Konzerne auszulagern. Das Thema „Offshore IT-Outsourcing“ ist also bereits mehr als 20 Jahre alt und damit keinesfalls ein Modethema. Die Bedeutung dieses Themas ist bisher in diesem Land nur langsam gewachsen (dafür aber stetig) und wird mit Sicherheit ein Kernthema der IT in den nächsten 10 Jahren bilden.
Nearshore = EU + Beitrittskandidaten
Nearshore bezeichnet die Vergabe von Aufgaben in uns nahe gelegenen Ländern wie Polen, Tschechien, Ungarn oder Rumänien. Anders als beim Thema „Offshore“ hat sich dieser Trend langsamer entwickelt, denn es ist zu beobachten, daß sich vorwiegend mittelständische Firmen solcher Nearshore-Strukturen bedienen. Russland nimmt dabei eine besondere Rolle ein.
Hintergründe
Die Hintergründe, Entwicklungen aus dem eigenen Unternehmen auszulagern und durch einen externen Dienstleister durchführen zu lassen sind vielfältig. Zunächst kann die externe Entwicklungs-Dienstleistung in verschiedene Modelle untergliedert werden. Die Modelle werden nach der Art der Zusammenarbeit unterschieden in:
- Vermittlung (OffSite/OnSite).
- Verlängerte Werkbank (OffSite).
- Partnerschaftliche Zusammenarbeit (OffSite/OnSite).
- Werkvertrag (OffSite).
Nicht alle genannten Modelle sind für alle Anbieter aus allen Ländern geeignet. Bei externen Dienstleistungen wird, wie oben ausgeführt, zwischen Offshore- und Nearshore Entwicklung unterschieden.
Jedes Land bietet unterschiedliche Vor- und Nachteile, die hier nach Ländern aufgeteilt dargestellt werden sollen. Zur Auswahl eines geeigneten Dienstleisters ist immer eine detaillierte Analyse der eigenen Anforderungen und Erwartungen notwendig. Darauf aufbauend ergibt sich sehr schnell ein Profil für einen geeigneten Dienstleister. Die überwiegende Mehrheit der Anbieter für Nearshore/Offshore Leistungen kommen aus Asien: Indien, China, Malaysia und den Philippinen, sowie aus Osteuropa und der russischen Föderation.
Im Folgenden wollen wir die Möglichkeiten erläutern, welche die russische Föderation bietet und auf folgende Aspekte eingehen:
- Infrastruktur
- Kostenvorteile – wobei hier die Gesamtkosten betrachtet werden
- Ausbildung / Ausbildungssystem
- Qualität / Qualitätsbewusstsein
- Kulturelle und mentale Verwandtschaft
- Sprachkenntnisse (Englisch / Deutsch)
- Erfahrung / Angebotsdichte – Anzahl an Dienstleistern und Breite des Angebotes
Nearshoring in der Russischen Föderation
Als sehr ernstzunehmender Wettbewerber um die Gunst der Auftraggeber hat sich Russland als wichtiger Nearshore Partner etabliert. Der IT Bereich wächst stetig und es ist auch in den nächsten Jahren mitunter von 2-stelligen Steigerungsraten auszugehen. In Russland arbeiten mehr als 500.000 Ingenieure und Informatiker. Die Dichte an Ingenieuren und Informatikern bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist in der russischen Föderation besonders hoch. In den technischen Fähigkeiten und der Ausbildung an den dortigen Universitäten liegt auch die besondere Stärke. Die Zusammenarbeit auf Basis technischer Aufgabenstellungen fällt aufgrund der hervorragenden Erfahrungen auf Basis von industriellen, militärischen Projekten sowie in den Bereichen Energie- und Kommunikationstechnologie besonders leicht. Die Infrastruktur in den Zentren wie Moskau, Novosibirsk und St. Petersburg ist ausgezeichnet. Die Nähe zu den Universitäten ermöglicht einen einfachen Zugriff auf sehr gut ausgebildete junge Leute. Jährlich graduieren ca. 75.000 Studenten der Wirtschaftswissenschaften und der Informatik. Die Zeitzonenunterschiede sind sehr gering, die Flugzeit in die Ballungszentren beträgt ca. 2,5 Stunden.
Die Ein- und Ausreise in und aus Ländern der russischen Föderation ist problemlos, wenngleich man ein Visum benötigt. Da russische Mitarbeiter eher technik- als geschäftsorientiert sind, ist es notwendig, ein klares und strukturiertes Projektmanagement aufzusetzen. Die Lösungskreativität ist bei russischen Mitarbeitern deutlich erkennbar. Dies hat seinen Ursprung in der Art der Ausbildung und der ausgeprägten „Trial and Error“ Mentalität. Dadurch besteht eine deutlich stärkere kulturelle Verwandtschaft zwischen deutschen und russischen Unternehmen, als beispielsweise zu asiatischen Partnern.
Das Verständnis für technische Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten ist bei russischen Ingenieuren und Informatikern sehr hoch ausgebildet und ebenso ist die Prozessorientierung dort laut einer VDMA Studie weiter vorangeschritten als z.B. bei ostasiatischen Unternehmen. Grundsätzlich sollten sich Firmen die Entwicklungspartner aus dem Ausland suchen, folgende vom VDMA empfohlene Fragen stellen:
- Ist mir die vorliegende Infrastruktur bekannt?
- Bieten sich Kostenvorteile?
- Welches Ausbildungssystem liegt vor?
- Gibt es eine kulturelle bzw. mentale Verwandtschaft?
- Bestehen Sprachbarrieren?
- Entspricht das Qualitätsbewusstsein meinen Vorstellungen?
- Welche Erfahrungen / Angebote sind vorhanden?
Möglichkeiten des Outsourcens
Möglichkeiten des Outsourcens – Offshore Development Center
Die Kernfrage bei der Portfolioauswahl Ist, ob die gewählte Aktivität Teil meiner Kernkompetenz darstellt. Daraus ergeben sich die verschieden Möglichkeiten des Outsourcens.
Obwohl der Leitfaden sich auf das Projekt-Outsourcing konzentriert, soll an dieser Stelle auch die Alternative eines ODC (offshore-Development-Centers) erwähnt werden.
Bei einem ODC wird ein Team für einen längeren Zeitraumn fest „angemietet“ und arbeitet während dieser Zeit exklusiv für den Auftraggeber. Die Mindest-Teamgröße sind 3 Personen, aber es gibt ODCs mit mehreren hundert Team-Mitgliedern. Diese Personen werden für mindestens jeweils ein Jahr fest angemietet. Der Teamleiter oder auch – bei kleineren ODCs – das gesamte Team kommt dann zu Beginn der Zusammenarbeit für ca 1-2 Monate nach Deutschland und wird hier vom Auftraggeber in die existierende Technologie eingearbeitet. Danach geht das Team wieder zurück ins Nearshore-Land und erhält seine Instruktionen per Email direkt vom Auftraggeber. Mit diesem Verfahren sind dann auch kleinere Projekte und/oder Wartungsarbeiten usw. durchführbar. Allerdings rechnet sich dies nur, wenn eine langfristige Zusammenarbeit geplant ist, da die Initialkosten relativ hoch sind.
Software, welche ständigen Änderungen unterliegt und Software Entwicklungen zusammen mit Kunden bietet sich gut für ODCs an. Ebenso gut in ODCs auslagerbar sind Systemintegration und Test, die Reine Codierung und der Zukauf von Standardtechnologien, die keine Kernkompetenz darstellen. Die Kernkompetenz sollte immer bei Auftraggeber bleiben.
Fit for Nearshore / Offshore
Wer seine eigenen Prozesse nicht im Griff hat, braucht erst gar nicht an Nearshore-Outsourcing zu denken. Auf diesen einfachen Nenner lässt sich die Fitness Betrachtung bringen.
Innerhalb eines Unternehmens, das sich für eine Evaluierung von Nearshore-Projekten entschieden hat, müssen verschiedene Vorbedingungen erfüllt sein, um das Thema erfolgreich bearbeiten zu können.
Eigene Kultur
Erfahrung mit globalen Projekten ist hilfreich, aber nicht die Voraussetzung, für ein erfolgreiches Projekt. Mindestanforderung ist die Bereitschaft, von anderen Kulturen zu lernen und eigene interne Verhaltensweisen und Prozesse auch in Frage zu stellen. Das bedingt eine offene Firmenkultur und vor allem offene interne Kommunikationswege.
Beschäftigungs- und Standortsicherung
Der Effekt der Verlagerung von Aufgaben auf bestehende Arbeitsplätze ist insbesondere in der Fachpresse in den Vordergrund geschoben worden. Hier wurden häufig Zahlen aus den USA, die immer Call-Center Verlagerungen betrafen, ohne Überprüfung auf den deutschen Markt projiziert.
Fakt ist, dass es bei Fertigungsunternehmen keine effektiven Arbeitsplatzverlagerungen durch IT-Nearshore/Offshore Projekte nach Osteuropa oder Asien gegeben hat. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: durch die Lerneffekte der Globalisierung stellen sich Firmen, die schon länger Erfahrung in Nearshore / Offshore-Projekten haben, besser auf und sind wettbewerbsfähiger.
Gerade auch in Deutschland sind zudem die sprachlichen Hürden eine wesentliche Barriere für einen Arbeitsplatztransfer in das Ausland.
Arbeitsplatzverluste in Fertigungsunternehmen durch Nearshore / Offshore-Outsourcing lassen sich deshalb ausschließen.
Projektteam
Die Mitarbeiter
Die Erfahrung zeigt, dass vor allem Mitarbeiter aus dem operativen Bereich unterhalb der Management-Ebene vor dem erstmaligen Einsatz von Nearshore / Offshore-Ressourcen den häufig von der Firmenleitung dekretierten Ansätzen skeptisch gegenüber stehen.
Das kann zu erheblichen Problemen führen. Es sind Fälle bekannt, in denen Mitarbeiter aus Angst vor Arbeitsplatzverlust Projekte boykottierten.
Weit häufiger aber sind Mitarbeiter mit der Aufgabe überfordert, ein Nearshore / Offshore-Outsourcing Projekt erfolgreich zu leiten und durchzuführen, sei es, weil sprachliche Hürden existieren oder weil (was häufiger vorkommt) in kritischen Phasen Managementsupport fehlt.
Deshalb müssen erstmalig durchgeführte Nearshore / Offshore-Projekte von vorneherein eine Begleitung durch das Management haben. Ein gemeinsames Projektteam mit dem Lieferanten (Steering Committee) ist hier die Lösung.
Im Team sollten die nötigen Fähigkeiten hinsichtlich Problemlösungen, Entscheidungsfindung und Umgang miteinander vorhanden sein, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Es muss ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Kompetenzfeldern der Mitarbeiter bezüglich Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz vorliegen.
Den Mitarbeitern muss klar sein, wofür sie individuell und gemeinsam verantwortlich sind und wie das gemeinsame große Ziel aussieht. Das Management spielt hier eine wesentliche Rolle und sollte sich an Lernprozessen beteiligen.
Weisungsbefugnis
Eine klare Projektstruktur mit Verantwortlichkeiten und Befugnissen muss für das Vorhaben gemeinsam verabschiedet werden. Gerade wegen der örtlichen Trennung und der kulturellen Unterschiede ist dies notwendig und verhindert Reibungsverluste.
Projektmanagement
Sprachliche und kulturelle Schwierigkeiten können zu Missverständnissen führen. Gerade zu Beginn des Projektes ist deshalb ein kontinuierliches Projekt-Controlling sehr zu empfehlen, welches durch ein international erfahrenes Projektmanagementteam gewährleistet wird. Idealerweise spricht der Outsourcing-Partner dieselbe Fachsprache wie der Auftraggeber. Erfahrene Outsourcing-Firmen tragen diesem Umstand Rechnung, indem für das internationale Projektmanagementteam multikulturelle und mehrsprachige Projektmanager engagiert werden. Aber auch der Auftraggeber ist gut beraten, wenn er die Projektleitung einem erfahrenen, multikulturell denkenden Projektleiter übergibt. Der Aufbau der eigenen Infrastruktur kann dabei durchaus 2-3 Monate in Anspruch nehmen.
Dazu gehört:
- Rekrutierung und Training einplanen.
- Pilot Tätigkeiten planen.
- Pilotprojekte sind beim ersten mal sehr hilfreich.
- Erweiterung der Tätigkeiten sukzessiv durchführen.
- Einrichtung von speziellen, projektbezogenen Wörterbüchern.
- Exakte Definition des Change-Managements: Was geschieht, wenn sich Anforderungen ändern, Wer darf was beschliessen, fiananzielle und terminliche Auswirkungen).
- Handbuch zur Kommunikation (wer mit wem ?, Kommunikationsarten (Mail, Chat, Telefon, Videokonferenz).
Die Projektdurchführung setzt dann ein, wenn alle Beteiligten an Bord sind. Üblicherweise reduzieren sich Anfangsprobleme recht schnell auf ein Maß, das dem von lokalen Outsourcing Projekten entspricht, wenn erst einmal die Kommunikation etabliert ist.
Reporting System
Für einen sicheren Informationsfluss im Projekt müssen regelmäßige Reports etabliert werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass beide Seiten rechtzeitig auf Änderungen reagieren können und notwendige Korrekturen schnellst möglich in das Gesamtprojekt einfliessen.
Zusammenfassung und Ausblick
Welche Gründe sprechen für ein Nearshoring von Projekten in Russland?
- Kostenoptimierung: Bei schrumpfenden R&D Budgets kann eine Auslagerung erfolgreiche Projekte ermöglichen, die lokal nicht mehr durchführbar wären.
- Verbesserungen in der Lieferkapazität: Gerade bei stark oder schnell wechselnden Anforderungen und Ressourcenbedarf bietet eine Zusammenarbeit mit einem Nearshore Dienstleister erhebliches Potential für schnellen Aufbau von Entwicklerteams oder Einsatz zu an Orten, die man sonst nicht erreichen würde.
- Höhere Qualitätsstandards: de facto sind insbesondere russische Firmen in der Lage, deutliche Verbesserungspotentiale in der Qualität aufzuzeigen. Es ist hinreichend bekannt, daß Russland hervorragende Mathematiker und Phyisker hervorbringt. Arbeitskulturell stehen sich Russen und Deutsch sehr nahe. Ein einfacher Beweis ist die Tatsache, daß sich nach Deutschland ausgewanderte Russen sehr schnell in die Arbeitswelt integriert haben und Dank guter Ausbildung und Zielstrebigkeit überall sehr anerkannt sind.
- Besserer Zugriff auf talentierte Entwickler: Bei dem sich abzeichnenden Schwund an gut ausgebildeten Ingenieuren und Entwicklern wird die Verfügbarkeit externer Ressourcen möglicherweise zur Überlebensfrage.
- Wettbewerbsvorteile: Firmen, die mit Nearshore / Offshore-Outsourcing Erfahrung haben, realisieren damit freiwerdende Ressourcen (personell und finanziell), die sie in neue Projekte investieren können.